Marion Poschmann
Zunächst bedarf es eines Eindrucks großer Höhe. Vielleicht taucht ein Berg im Bewußtsein auf, ein schwarzer Block, der die Sicht versperrt. Dann reißt der Block auf, etwas Helles bewegt sich, stürzt ab.
Was macht einen Wasserfall aus? Wasser fällt in gewisser Menge von oben nach unten, fällt senkrecht, fällt tief. – Wäre ein reifer Apfel, der zu 84 Prozent aus Wasser besteht, der sich vom Ast löst und senkrecht nach unten stürzt, der auf den Boden prallt, aufplatzt und spritzt, nach diesen Kriterien auch ein Wasserfall? Wieviel Prozent Wasser braucht es, um zu überzeugen, und welche Form darf das Wasser allenfalls annehmen und welche nicht? Wasser in Apfelform könnte gut Material für ein Zen-Koan sein.
In der japanischen Gartenkunst ist der Wasserfall ein nahezu unentbehrlicher Bestandteil der gesamten Anlage. Man errichtet für gewöhnlich drei Hauptsteine: zunächst den zentralen Wasserfallstein, dann den rechten und linken Begleitstein. Dieser Aufbau wird mit Erde, Lehm und Kies stabilisiert, seine Schauseite mit weiteren, besonders wohlgeformten Steinen verkleidet. Man soll die Quelle des Wassers möglichst nicht sehen. Der Wasserfall soll überraschen. Grundsätzlich gilt: je höher er ist, desto besser. Die charakteristischen Varianten unterscheiden sich darin, ob sie ein- oder mehrgliedrige Ströme über die Felskante leiten, sie unterscheiden sich im Sprühverhalten und in der Auffächerung des Wassers. Prallt das Wasser unten auf einen Felsen, so daß es hoch aufspritzt? Stürzt es auf seinem Weg über Vorsprünge und bildet Gischt? Kommt es in einem engen, gewaltigen Strom heran, oder fließt es breit und seicht seines Weges?
Vorzugsweise fällt das Wasser frei von der scharfen Oberkante des Wasserfallsteins herab, wenn ein heroischer Eindruck erzielt werden soll. Läuft das Wasser sanft über dem rundlichen Steinbauch herab, ist die Wirkung lieblich und anmutig. Stufenartig angeordnete Steine bewirken kraftvolle Kaskaden.
Aber ob man einen Zwillingsfall oder einen Seitlichen Fall konstruiert, ob es sich um einen Springenden, Stürzenden oder Gleitenden Fall handelt, ob der Wasserfall wie eine Stoffbahn oder wie zahllose einzelne Fäden in die Tiefe geht – vor allem zählt zu seinen wichtigsten Qualitätsmerkmalen die Produktion von Dunst und Undeutlichkeit.
Der Wasserfall soll eine Atmosphäre schaffen, die es dem Betrachter leicht macht, sich mit der umgebenden Natur zu verbinden. Wie das konturlose Wasser, das voranströmt, die Dinge benetzt und verdunstet, erlebt er sich selbst als unabgegrenzt, er ist Teil des Ganzen, Teil des Aufsteigens und Fallens, Teil der Feuchtigkeit, Teil des felsischen Widerstands. Eine strebende Energie, eine Wolke, die sich für gewisse Zeit bildet. Eine Ansammlung von Wasser in Form eines Menschenkörpers.
In der klassischen Gartenkunst wird der Wasserfall stets so ausgerichtet, daß sich des Nachts das geheimnisvoll schimmernde Mondlicht im rinnenden, stürzenden Wasser spiegelt.
Ein Blatt voller Mondschein, ein Blatt voller Lichtreflexe, ein schneeweißes Blatt. Papier, ganz aus Wasser gemacht.
Gottfried Wilhelm Leibniz, seines Zeichens Barockphilosoph und Universalgelehrter, unterscheidet in seiner Schrift „Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen“ mehrere Arten von Eindrücken. Manche sind dunkel-verworren, andere klar und deutlich. Je deutlicher und klarer man etwas erkennt, so die These, desto näher kommt man der Wahrheit. Die dunklen Ideen hingegen gelten der Philosophie als unbrauchbar, denn sie reichen zum Wiedererkennen der Dinge nicht aus.
Von besonderem Interesse für die Kunst sind jedoch die Eindrücke, die zutiefst dunkel und dennoch sehr deutlich sind. Schwarze Kunst des Buchdruckerhandwerks, mit Schwärze getränkte Seiten, mit Zweideutigkeit. Magische Tinte, die Felsen darstellt, Flüssiges, das etwas Festes zeichnet, auf einem Untergrund, klar und verworren, die Schrift der Natur – zeigt sich darin das Streben der flüchtigen Dinge, sich in unserer Wahrnehmung zu etablieren, beständig zu werden, fortan in der Lage zu sein, noch viel Flüchtigeres zu zeigen, die Illusion eines nächtlichen Lichtes, gespiegelt in der Illusion von Wasser?
Die japanische Gottheit Fudo, „der unbewegte Eine“, ist der Gott der Wasserfälle. Fudo bedeutet soviel wie „standhaft“ und „unerschütterlich“, „unbeugsam“, „nicht beeinflußbar“. Er ist ein wilder, ja wüster Gott, sein Gesicht ist verzerrt, die Augen treten erregt hervor, er bleckt seine Zähne: eine wütende Macht, die die Erde vom Bösen reinigt, den einzelnen vor schädlichen Einflüssen schützt. Zu seinem Kult stellen sich die Adepten unter einen Wasserfall, lassen das kalte Wasser auf Schultern und Nacken prasseln, verharren so über Stunden in Meditation. Der Gott Fudo geht auf im Brausen, im Rauschen, im Fließen, in der Be- wegung des Fallens, im Sprühen und Spritzen, im Undeutlichen. Diejenigen, so heißt es in einem Sutra, die seine Form sehen, die seine Stimme vernehmen, werden Erleuchtung erlangen.
Eine Linie, oben Himmel, unten Erde, Schöpfungsgeschichte – man zieht einen Strich und scheidet das Helle vom Dunklen, das Wasser vom Land. Wie minimal darf der Aufwand sein, der eine Welt erzeugt? Ab welchem Punkt sind wir bereit, eine Vorgabe als Landschaft zu betrachten, Gegend zu sehen, Wellen oder Alpen, Wege, Weite? Ist eine solche Linie Planung oder Zufall, ist sie Konstruktion, Reduktion, Manipulation?
Linien, geknickt zu einem schroffen Gebirge. Linien, aufgestellt. Stäbe im Raum, die einen Krater bilden, ein Maar, eine Karstlandschaft. Linien, staksig. Spinnenbeine. Gipfel auf Wanderschaft, Berge auf Pilgertour. Blumenstraußhaft arrangierte Stangen. Mikado.
Deine Hand darf nicht zittern. Du ziehst aus dem Konglomerat dünner Stäbe, die ein fragiles Gleichgewicht bilden, die sich gegenseitig stützen und stabilisieren, einen einzelnen Stab heraus. Ziehst dir deine Horizontlinie, ohne zu wackeln, ohne das Ganze zum Einsturz zu bringen, ziehst sie heraus und beginnst deine eigene Landschaft, arrangierst sie exakt so, wie es dir paßt.
Linien, geknickt. Linien, aufgestellt. Falten, in die sich der Raum legt. Falten, in denen der Raum immer schon lag, sind plötzlich sichtbar geworden. Falten, in denen sich Licht fängt. Lampions.
Nymphea pubescens,
indische Wasserlilie in der Varietät Pink,
auch Rosa Lotus genannt.
Das Wasser ist da. Man muß sich nur die Mühe machen, es zu erkennen. Das Wasser ist offensichtlich, aber womöglich erst auf den zweiten Blick. Dem fortgeschrittenen Betrachter steht das Wasser bereits bis zum Knie: Er watet in einem Seerosenteich und kann sehen, wie sich die Blüten mit Hilfe ihrer Spiegelung zur Kugel runden, sich zum Zylinder in die Länge ziehen.
Leuchten diese Blüten von innen? Sind es Laternen? Fette rosa Geister? Man sieht, wie sie schwanken, wenn ein leichter Wind geht, man sieht, wie sie aufgefächert mit ihrem Rosa prunken, man sieht, daß sie sich jederzeit wieder einfalten können, so, wie sich Blüten nachts schließen.
Die Objekte von Thomas und Renée Rapedius zeigen sich stets nur für kurze Zeit. Es sind Objekte, die nur scheinbar ruhig dastehen, die wie in der Bewegung angehalten scheinen, die danach streben, sich zu entfalten, Fruchtstände zu bilden, schließlich zu verwelken, die den Kreislauf der Natur weiterführen würden, hätten wir genug Zeit, sie dabei zu beobachten. Es sind anmutige, offene, höfliche Objekte. Bäte man sie, würden sie sofort zuvorkommend ein Stück zur Seite rücken. Sie sind flexibel, sie bewahren den Witz des Schlichten. In einer Welt, die mit einem Übermaß an Dingen zugestellt ist, nehmen sie uns keinen Platz weg, sondern, wie Parkbäume, wirken sie raumbildend. Sie sind konkret, aber sie sind zugleich abstrakt, denn sie haben teil an den geistigen Dingen. Es sind Material gewordene Ideen, sie öffnen den Raum der Imagination – voller Leichtigkeit, beiläufig hingestellt, oft nur aus Papier.