Landschaft als künstlerische Ausdrucksform

Susanne König

Die Titel der ausgestellten Arbeiten des Künstlerpaares beziehen sich alle auf natürliche Phänomene. Sie lauten „Kakteen“, „Palmen“, „Schwamm“ und „Gebirgslinien“ und wecken beim Betrachter Erinnerungen an eigene Naturerlebnisse. Die dargestellten Pflanzen kommen aus unterschiedlichen Regionen. So wachsen „Kakteen“ in den Subtropen und können in der trockenen Wüste unter erschwerten Bedingungen überleben. „Palmen“ siedeln sich hauptsächlich an feuchtwarmen Küsten der Tropen an und lassen den Betrachter an Urlaubswünsche denken. „Schwamm“ erinnert an die Baumschwämme, die sich in gemäßigten Gebieten ausbreiten und das feuchte Klima der Wald- und Moorregionen lieben. „Gebirgslinien“ und „Nebelgebirge“ wecken Assoziationen an Berglandschaften, deren Gipfel sich schwindelerregend in die Höhe erstrecken. Und selbst mit dem Titel „Wucherung“ assoziieren wir ein natürliches Phänomen, nämlich die aus dem Gleichgewicht geratene Pflanzenwelt, die unter bestimmten Umständen anfängt zu wuchern. Vor allem sehr robuste und gegen äußere Einflüsse resistente Pflanzen treten in sich rasant ausbreitender Anzahl auf und können ganze Gebiete überwuchern.

Indem sich Thomas und Renée Rapedius mit Natur beschäftigen, wenden sie ihre Aufmerksamkeit einem kunsthistorischen Sujet zu, das vor allem im Genre der Landschaftsmalerei eine große Tradition hat. Von der naturgetreuen Skizze bis zum idealisierten Landschaftsbild finden sich Darstellungen von Natur in allen Epochen der Kunstgeschichte. Die Künstler versuchten sich entweder der Wirklichkeit in mehr oder weniger naturähnlichen Darstellungen zu nähern, oder sie waren vom Fortschritt in den Naturwissenschaften inspiriert, stellten die Realität der sichtbaren Welt in Frage und gestalteten stattdessen abstrakte Darstellungen von Natur, indem sie die Formen dekonstruierten, die Farben vom Gegenstand lösten und die Formgebungen änderten.

Auch Thomas und Renée Rapedius sind von der Natur inspiriert. Sie erarbeiten jedoch Objekte, die ihre Nähe zur Natur nicht unbedingt auf den ersten Blick preisgeben. Vielmehr konfrontieren sie den Betrachter mit Produkten der Massenproduktion und stellen zum Beispiel Objekte aus aufgefächerten Skizzenblöcken, ineinander gesteckten Pappbechern und gestapelten Pappkartons her. Indem die Produkte in großer Anzahl und in immer gleicher Form auftreten, unterstreichen sie ihre industrielle Herkunft und scheinen in ihrer Materialität den Naturobjekten sogar diametral gegenüberzustehen. Gleichzeitig spielt das Künstlerpaar mit einem Material, das sich durch Fragilität und Zerbrechlichkeit auszeichnet: Papier und dünne Pappe. Beide Materialien wirken freilich durch die Formung und die aufgefächerte und auseinandergezogene Präsentation noch instabiler, als sie ihrer Natur nach ohnedies schon sind. Doch gerade hierdurch ergibt sich eine gewisse Nähe zu den Naturobjekten. Denn so verletzbar ihre einzelnen Kunstwerke sind, so verletzbar durch die Angriffe des Menschen hat sich die Natur erwiesen.

Die beiden Künstler erforschen mit ihren Arbeiten ihr Material und seine künstlerische Formbarkeit. Sie befragen ihre fragilen Objekte in ihrer Stabilität, Flexibilität und Mobilität. Wie viele Einzelteile können ineinandergestapelt werden, bis der entstandene Turm zusammenstürzt, wie weit lässt sich eine Papierkette auseinanderziehen, bis sie reißt und wie weit lässt sich ein Objekt drehen, bis es bricht? Am Papier interessiert sie besonders seine Faltbarkeit und die durch Faltung erzielbaren Effekte. Sie falten es, falten es auf und entfalten es. Bei der Arbeit „Schwamm“ entwickelten sie eine Falttechnik, bei der erst nach dem Auseinanderziehen eine körperliche Form entstand; eine Technik, die sie auch bei anderen Arbeiten anwenden. Diese Vorgehensweise ermöglicht es den Künstlern auch, ihre Arbeiten quasi im Koffer zu transportieren.
Der Ausgangspunkt der Arbeit „Nebelgebirge“ ist ein DIN-A3-Blatt, auf dem eine Zickzacklinie verläuft. Die Zickzacklinie unterteilt das Blatt diagonal in zwei Hälften, denen die Künstler je einen Grauton zugeordnet haben. Am Kopierer vervielfältigten sie das Blatt so, dass sechs verschiedene Helligkeitsstufen entstanden und setzten dann die einzelnen Blätter zu einer Art Collage zusammen. Indem sie die Blätter teilweise horizontal spiegelten, ergänzten sie die Zickzacklinien zu einem gemeinsamen Horizont, der an eine Gebirgskette denken lässt. Durch die unterschiedlichen Grautöne entsteht die Tiefenwirkung.
Thomas und Renée Rapedius arbeiten „in situ“ und passen ihre Installationen dem jeweiligen Ausstellungsraum an. Die Anzahl der Kopien des „Nebelgebirges“ und die verschieden großen Objekte der Arbeit „Kakteen“ und „Schwamm“ sowie die Weite der ausgebreiteten Arme der „Wucherung“ richten sich immer nach der Größe des Ausstellungsraumes.

Neben der formalen Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der Arbeiten lassen sich auch in der Interpretation unterschiedliche inhaltliche Assoziationen feststellen. So erinnern beispielsweise die geometrischen Zickzacklinien der Arbeit „Nebelgebirge“ durch die Helligkeitsabstufungen an Gemälde von Caspar David Friedrich wie „Der Morgen im Gebirge“ und „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ – hier legt es auch der Titel schon nahe. Und die „Kakteen“, die in ihren Körpern Wasser für Monate speichern können, lassen die Assoziation des Blatt Papiers als Wissensspeicher zu. Die Arbeit „Wucherung“ erinnert durch die bis auf den Boden liegenden, ineinandergesteckten Pappbecher an eine Trauerweide und scheint mit dem Titel das zu umschreiben, was das Gesamtbild der Äste eines solchen Baumes auszeichnet.

Der Titel der Ausstellung „falten, schichten, wandeln“ beschreibt die Arbeits- und Handlungsweise der beiden Künstler und stellt den Prozess in den Mittelpunkt der Betrachtung. Thomas und Renée Rapedius interessiert nicht das letztendlich hergestellte Objekt, sondern der gesamte Entwicklungsprozess von der Ideen- und Formensuche, der Materialforschung und Transformation, der Raumpräsentation bis hin zur Integration des Besuchers im Rezeptionsprozess. Dies zeigt sich auch in der Einbeziehung skizzenhafter Zeichnungen, Fotografien und gesammelten Bildmaterials in die Präsentation, mit denen sie Verknüpfungspunkte und Verflechtungen zwischen den einzelnen Objekten aufzeigen.
„Falten“ steht für das Zusammen- und Auffalten des Papiers, „schichten“ für das Stapeln, Auftürmen und Ansammeln von Pappbechern und Kartonkisten und „wandeln“ im Sinne von Wandlung für das Ver- und Umwandeln natürlicher Phänomene in Kulturobjekte beziehungsweise für die Verformung des Materials. Das „Wandeln“ beschreibt jedoch sowohl das Lustwandeln der beiden Künstler bei ihrer Ideensuche durch die Natur als auch das des Besuchers durch deren fiktive Landschaften.

Die Arbeiten von Thomas und Renée Rapedius thematisieren das Grenzgebiet zwischen Kultur und Natur. Wobei sich die Frage stellt, ob es diese Grenzlinie in Europa unserer Tage überhaupt noch gibt, ob sie nicht zumindest so verwischt ist, dass es kaum noch nottut, sie zu erwähnen. Die Natur wurde insgesamt einem kulturellen Wandel unterworfen, der die so genannte „unberührte Natur“ fast gänzlich zum Verschwinden gebracht hat. Dass heute die Trennung zwischen Natur und Kultur kaum noch Relevanz hat, scheinen auch die Arbeiten von Rapedius sichtbar machen zu wollen.