Christian Schindler, Kurator und Musiker, Hamburg
Der Begriff der Landschaft ist komplex. Einerseits stellt Landschaft ein sichtbares, abgestecktes Feld dar, das sich durch geologische Indikatoren von seiner unmittelbaren Umgebung abgrenzt. Andererseits unterscheiden wir zwischen Natur- und Kulturlandschaft und so umschließt der Gebrauch des Wortes Landschaft auch diejenigen Gebiete, die einer wie auch immer gearteten Intervention durch seine menschlichen Bewohner unterworfen sind. In unserer durch und durch zivilisierten Gesellschaft geht die Kultivierung der Landschaft sogar so weit, dass wir Reservate errichten, Habitate des Urwüchsigen, umzingelt von Kulturräumen.
Was aber macht eine geografische Entität zur Landschaft? Eine Frage, die bei näherer Betrachtung diffiziler erscheint, als man zunächst annehmen möchte. Tatsächlich ist eine Landschaft ein Konstrukt, das weniger per se existiert, sondern vielmehr im Auge des Betrachters entsteht. Der Raum, der sich vor uns ausbreitet, ist eine Ansammlung von Zeichen und Symbolen, die wir unter verschiedenen Aspekten deuten. Die Lesart eines Raums unterscheidet sich von Subjekt zu Subjekt insofern, als dass sich die Beziehung des oder der Einzelnen zu jenem Raum mal mehr und mal weniger unterscheidet. Um der Sache näher zu kommen, ist es hilfreich, einen Klassiker der Soziologie zu bemühen. Georg Simmel beschrieb es ebenso kurz, wie treffend: „Nicht der Raum, sondern die von der Seele her erfolgende Gliederung und Zusammenfassung seiner Teile hat gesellschaftliche Bedeutung.“ Ich würde soweit gehen zu sagen, dass wir von Landschaft sprechen können, sobald diese Gliederung im Sinne Simmels erfolgt ist.
So wie die Landschaft als Konstrukt von unserer kulturell bedingten Lesart abhängig ist, so ist sie auch ein Produkt kultureller Handlungen. Wir machen uns in der Regel nicht bewusst, wie tief die Spuren der Kultur in die geografische Fläche eingedrungen sind, dennoch ist dieser Umstand leicht nachvollziehbar. Wenn wir etwa von der spröden Schönheit mediterraner Landschaften sprechen, so ist es uns im Alltag oft nicht klar, wie sehr das angeblich Typische eine Fiktion ist: Ihre Kargheit ist unter anderem die Folge zügelloser Abholzung. Die Zitrusfrüchte entstammen fernöstlichen Regionen, Kakteen, Agaven und Feigenbäume stammen aus Amerika und Zypressen sind persischer, Eukalyptusbäume gar australischer Herkunft. Für uns als Touristen jedoch erfüllt die romantisierende Vorstellung einer mediterranen Landschaft die Funktion, die wir ihr zuweisen, nämlich als Ort der Erholung und kitschiger Sehnsüchte nach lauen Sommernächten auf großzügigen Dachterrassen.
Es ist also erkennbar, dass Landschaft ein begrifflich problematisches Terrain ist, das sich aus den verschiedensten Blickwinkeln beleuchten lässt. Thomas & Renée Rapedius stellen sich dieser Herausforderung, indem sie sich an einer Phänomenologie der Landschaft versuchen. Dabei bedienen sie sich verschiedener medialer Mittel, die sie miteinander kombinieren, wie Objekte, Zeichnungen und Fotografien. So entstehen komplexe Werkgruppen, die je nach den Ausstellungsbedingungen in Größe und Erscheinung variieren.
Die beinahe wissenschaftliche Vorgehensweise, wenn sie Analogien und Differenzen zwischen verschiedenen Artefakten suchen und dokumentieren, erinnert zuweilen an die Naturforscher des 18. und 19. Jahrhunderts. Unter schwierigsten Bedingungen begaben diese sich auf Forschungsexpeditionen, um der urwüchsigen Wildnis mittels Botanisiertrommel und Schreibfeder eine Systematik abzuringen: Eine Ordnung von Pflanzen und Tieren, welche maßgeblich durch das Sammeln von Proben sowie zeichnerische und schriftliche Darstellungen erfolgte, um die äußeren Erscheinungen sowie alle durch Beobachtung zugänglichen Informationen festzuhalten. Thomas & Renée Rapedius ziehen heute durch die Welt, um die Ordnung der Dinge unter dem Gesichtspunkt ihrer optischen Reizmotive zu erkennen und exemplarisch zu katalogisieren. So suchen und finden sie Repetitionen, Variationen von Formen und versuchen, ihren Informationswert an sich zu bestimmen. Praktisch bedeutet das die Lösung der Form vom Inhalt oder präziser formuliert: den Verlust der Semantik zugunsten der Syntax. Dieser Verlust ist dabei weniger der endgültige Zweck, als vielmehr das Mittel zum Zweck, wie man bei näherer Betrachtung erkennen kann.
Wenn wir die installative Gruppierung der an Kakteen erinnernden Papierobjekte mit der einer historischen Fotografie entnommen Abbildung eines Mannes mit einer Halskrause und der Zeichnung der abstrahierten Form eines Fächers, die beide Elemente – das Gefaltete und das Runde – der anderen Darstellungen aufnimmt, betrachten, können wir diesen Denkprozess der künstlerischen Analyse nachvollziehen. Sie folgt ihrem etymologischen Sinn als Zergliederung oder Auflösung des zu betrachtenden Problems, um anschließend zu einer Synthese nach eigenen Regeln zu gelangen. Die Kakteen als natürliche Erscheinung werden als Form begriffen, die Figur auf dem historischen Abbild durch die Entfernung des Antlitzes des Halskrausenträgers gleichfalls auf die Form derselben reduziert. Die Zeichnung greift das Motiv erneut auf und bildet es außerhalb eines Zusammenhangs ab.
Thomas & Renée Rapedius wären mit Sicherheit in der Lage noch weitere Objekte oder Abbildungen hinzuzufügen, die mit derselben Gestalt in anderen Kontexten arbeiten. In ihrem Archiv ist reichlich Material vorhanden. Diese Arbeitsweise wird in verschiedenen Konstellationen durchexerziert, je nach den Vorraussetzungen der Ausstellungssituation und der gewünschten Gewichtung, welche die Künstler anstreben oder für bemerkenswert halten. So ergibt sich eine Beziehung zwischen gezeichneten Blitzen, der auf einer Postkarte abgebildeten Wanderrute und mehreren geknickten, aus der Wand ragenden Stäben. Auch das aus Pappbechern hergestellte und in der Größe variable Objekt wird in den Kontext ähnlicher Erscheinungen gestellt: ein fein verästeltes Blätterdach, eine Feuerwerksexplosion und die sich entfaltende Bewegung einer Tänzerin. Die Komposition der einzelnen Ausstellungsstücke kann an anderer Stelle wiederum ganz anders ausfallen. Die Variabilität der gesammelten Formen ist dabei kein Mangel an analytischer Schärfe, sondern erinnert eher schon an den berühmten Luhmann’schen Zettelkasten. Anstatt einzelner Gedanken und Literaturverweise werden hier allerdings Informationen über visuelle Erscheinungen verarbeitet. Durch neue Verknüpfungen ihrer Medien kommen Thomas & Renée Rapedius zu immer neuen Einsichten und Beziehungen zwischen scheinbar autonomen Einzelbildern oder Objekten. Der Betrachter ist immer neuen Querverweisen, Repetitionen und Permutationen ausgeliefert.
Wir haben es also mit zwei Künstlern zu tun, deren Bestreben es ist, einen Nachweis zu erbringen, dass es ein Repertoire ästhetischen Figuren gibt, die uns überall begegnen, sei es als Naturprodukte oder als Produkte kultureller Handlungen. Diese können wir als ästhetische Syntax begreifen, deren Semantik unterschiedlichen Einflüssen unterlegen ist. Demnach gäbe es einen direkten Zusammenhang zwischen der Landschaft und ihren Bewohnern, die über das Klimatische, Geologische und selbst Historische hinausgeht, nämlich die Behauptung einer vorausgehenden ästhetischen Struktur.
Ihre künstlerische Praxis greift damit eine ähnliche Technik auf, wie sie Roy Lichtenstein in seiner Bilderserie Ten Landscapes praktiziert hat. Lichtenstein nutzte einfache, emblematische Formen in verschiedenen Variationen, um Landschaften unterschiedlicher Stimmungen zu generieren. Das besondere an diesen Bildern sind die reduzierten grafischen Mittel, die genügen, um die gewünschten Effekte zu erzielen: Eine dunkle Fläche von wenigen, lose angeordneten weißen Flächen durchzogen sind ausreichend um bewegtes Wasser zu identifizieren; Zwei Farbflächen von einem welligen Strich durchzogen ergeben einen Küstenstreifen. Lichtenstein entwickelte einfache Piktogramme, die trotz aller Reduktion alle erforderlichen Informationen enthalten, um dem Betrachter von einer Landschaft zu erzählen. Und auch hier geht es um die Suche nach einer Syntax der Landschaftsmalerei.
Auch das Projekt On Travel des Schweizer Künstlers Rémy Markowitsch bietet einen interessanten Vergleich. Markowitsch hat sich für eine gänzlich andere Arbeitsweise entschieden, die jedoch ebenso dem komplexen Verhältnis zwischen der Landschaft und seinen Betrachtern auf den Grund geht. Es geht dabei nicht um die äußere Form, sondern um die Imagination von Landschaften aus der Vorstellungskraft. Markowitsch hat eine Expedition in die exotischsten Winkel der Erde unternommen, allein handelt es sich dabei um eine Reise im Geiste: Er hat sich durch eine ganze Reihe literarischer Werke gelesen, die Reisen in verschiedene Regionen beschreiben. Aus diesen Texten suchte er einzelne Passagen aus und ordnete sie unabhängig von ihrem Ursprung neu an, sodass am Ende eine Collage entstanden ist, in der die Destinationen und Erzählformen verschwimmen. Neben dem Text stehen Fotoarbeiten, die ihrerseits Überlappungen verschiedener Reisefotografien zeigen, eine breite Palette an Motiven, die man im Allgemeinen als exotisch benennen würde. Die Pointe dieser aufwendig erstellten Kompilation ist die Tatsache, dass wir als Leser und Betrachter letztlich keine Informationen über die fernen Länder und Völker erhalten, sondern lediglich eine Vergegenwärtigung der Rezeption der Ferne durch den Menschen des Westens.
Beide Elemente der oben beschriebenen Positionen finden sich in der Rapedius’schen Formenanalyse wieder. Die Suche nach der einfachen Form, sozusagen einem ästhetischen Grundstein. Und die Frage nach den tatsächlich vorhandenen Zusammenhängen, die wir in den Werkgruppen sehen. Wenn uns Thomas & Renée Rapedius scheinbar vorhandene Beziehungen aufzeigen oder ganz neue Analogien anbieten, können wir uns nie ganz sicher sein, ob es etwas über die Form an sich zu erfahren gibt, oder ob wir durch unsere Bildung, ästhetische Erziehung und kulturelle Prägung einer Zwanghaftigkeit unterliegen, den visuellen Reizen, eine tiefere, metaphysische Bedeutung beizumessen. Ist das Geheimnis, das hinter den Formen liegt nur jenes, welches wir uns erträumen? Erfahren wir also auch hier, ähnlich der Markowitsch-Expedition, am Ende nur etwas über unsere Vorstellung von Natur und Ästhetik? Thomas & Renée Rapedius beantworten diese Frage nicht, sie bieten uns aber die Instrumente zur Analyse.
Was sich an dieser Stelle komplex liest, ist in der Ausführung weit spielerischer. Denn die Künstler schaffen es, ihre klare und poetische Bildsprache überzeugend umzusetzen. Die aus Alltagsmaterialien produzierten Objekte überzeugen durch die einfachen Lösungen, die sie präsentieren. Das Aufbauprinzip des wuchernden Pappbecherobjektes etwa, das die Menge der Becher mit einer innen geführten Schnur verbindet, verblüfft durch seine Praktikabilität im Sinne von Transport und Aufbau. Ebenso wie das an einen aus der Wand fließenden Wasserfall erinnernde Objekt, das sich als Bündel zusammengesteckter Trinkhalme erweist. Die Effizienz der Werke zeugt von der Fähigkeit, äußerst komplexe Sachverhalte mittels eines durchdachten Ausstellungsdesigns auf eine verständliche Bildsprache zu reduzieren. Diese nicht alltägliche Qualität im Schaffen von Thomas & Renée Rapedius macht ihr Werk umso reizvoller.