Formen auf Weltreise

Ludwig Seyfarth, Kritiker und Kurator, Berlin

„Es geht uns darum, eine universelle Bildsprache zu entwickeln, darum, die Viel- und Mehrdeutigkeit der Dinge zu ergründen. Also Formen, Symbole und Bedeutungen zu extrahieren, zu kategorisieren, in ihrer Wiederholung und Abwandlung Ähnlichkeiten und Differenzen aufzuzeigen.“ (Thomas & Renée Rapedius)

Ähnlichkeiten und Differenzen zu beobachten beruht nach Walter Benjamins schöner Formulierung auf einem „Sinn fürs Gleichartige“, der durch die Fotografie geschärft wurde. Das Nebeneinanderstellen von Fotos, auch wenn sie an weit entfernt voneinander liegenden Orten entstanden, lässt eine sonst übersehene Ähnlichkeit von Formen und Strukturen in den Blick treten. Darauf beruht der berühmte Bilderatlas „Mnemosyne“, den der Hamburger Kulturwissenschaftler Aby Warburg bei seinem Tod 1929 unvollendet hinterließ. Durch Zusammenstellung zahlreicher thematischer Tableaus versuchte Warburg, bestimmte gegenständliche Motive, Gesten oder Details – etwa die bewegte Linienführung dargestellter Kleidung – als eine Art soziales Gedächtnis über Epochen und Kulturen hinweg zu verfolgen. Wenn ein gleiches Motiv an ganz unterschiedlichen Orten auftaucht, stellen sich unerwartete Verwandtschaften zwischen Gleichartigkeiten ein. Andererseits wandeln sich Motive, und die gleiche Geste kann ihre Bedeutung im Laufe der Zeit bis hin zur vollständigen Inversion verändern.

Bilder gehen „auf Weltreise“ 1. Ihre Mobilität übertrifft im Zeitalter des Internet den physischen Reiseverkehr der Menschen um ein Vielfaches. Früher waren nicht nur die Reisen, der Transport und die Vervielfältigung, sondern auch die Herstellung der Bilder zeitaufwendig. Als Reiseeindrücke noch nicht mit der Kamera festgehalten werden konnten, griffen auch künstlerische Laien zu Stift und Pinsel. Technische Hilfsmittel wie die Camera lucida ermöglichten es Zeichnern, denen professionelle Kenntnisse fehlten, die Umrisse der auf das Blatt projizierten Sehenswürdigkeiten einfach nachzuziehen. Als William Henry Fox Talbot, ein dem Landadel entstammender englischer Gentleman, 1833 am Comer See weilte, gelang ihm jedoch nicht einmal das. So dachte er darüber nach, wie die Natur sich selbst ohne Zutun seiner Hand dauerhaft abbilden könnte. Über gewisse naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügte Talbot, und so gelang es ihm, durch chemische Experimente das fotografische Negativverfahren zu entwickeln.

Diese fotografischen Schwarz-Weiß-Bilder (die es zunächst ja ausschließlich gab) weisen in der Betonung von Helldunkelkontrasten und -valeurs sowie der Betonung der Konturen Ähnlichkeiten mit Zeichnungen und Druckgrafiken auf. Man kann die Fotografie also als eine Form der Zeichnung auffassen. Sie ist aber auch eine Kunst der Silhouette. Die Konturen der Dinge heben sich vom Grund ab, wobei die Körper ihre Erdenschwere verloren haben. Bei der in den ostasiatischen Schattenspielen virtuos ausgebildeten, im 17. Jahrhundert nach Europa eingeführten Silhouettenkunst wurden konturierte Schattenbilder aus schwarzem Papier geschnitten und auf weißen Karton aufgeklebt. Die um 1800 verbreitetste Form des Schattenrisses war die streng im ProfilgehaltenePorträtsilhouette, die dann aber der Konkurrenz der Fotografie nicht standhalten konnte.

Diese historische Reiseskizze als Wechselspiel zwischen Zeichnung, Fotografie und Silhouette bildet gleichsam die Landkarte des Terrains, auf dem die Künstler ihr subtiles Spiel mit Formen und Formanalogien, mit Ähnlichkeiten und Differenzen vorführen. So gibt es eine Serie von Fotografien, die Hände zeigen, deren Finger Gesten wie bei rituellen Zeremonien oder Tänzen vollführen. Sie erinnern aber auch an Figuren, wie sie für Schattenspiele gebildet werden.

Als solche Zeichnungen im Raum kann man auch die Skulpturen von Thomas & Renée Rapedius lesen. Sie bestehen aus leichten und einfachen Materialien, oft aus Papier oder Karton – nicht zufällig sind das die Materialien, die am häufigsten für Zeichnungen genutzt werden. Die Silhouetten der oft länglich aufragenden Objekte bilden, zweidimensional gelesen, fast Linien im Raum. Es sind gleichsam dreidimensional geschriebene Hieroglyphen, die sich stets wandeln können und vor dem inneren Auge des Betrachters unterschiedlichste Bilder entstehen lassen: aus dem Boden herauswachsende Pflanzen, zu Zeichen ihrer selbst abstrahierte Schornsteine wie auf den Bildern Giorgio de Chiricos oder phallische Formen wie bei urzeitlichen Fruchtbarkeitsidolen. Die leise wie halluzinatorische Metamorphose der Formen bildet ein Universum der Linien, Flächen und Volumina, das auch mit seiner farblichen Zurückhaltung an den grafischen Look vieler konzeptueller und postkonzeptueller Kunst erinnert. Thomas & Renée Rapedius gehen jedoch stets von der visuellen Beobachtung aus, nicht von sprachlich formulierten Konzepten oder Plänen, die das Vorgehen systematisch leiten. Auch gibt es keine expliziten Referenzen auf andere Künstler, auf Literatur, Geschichte oder Politik. Die Forschungen, die sie auf ihren Reisen unternehmen, gelten zwar auch den schriftlich vermittelten Informationen zu Kultur und Tradition, zu Symbolen und religiösen Ritualen. Vor allem aber gelten sie dem Zusammenhang der sichtbaren Formen, seien sie von der Natur oder der jeweiligen Kultur hervorgebracht. Ihre vergleichende und differenzierende Beobachtung bildet die Grundlage für das subtile künstlerische Formenspiel, das die verschiedenen Ausgangsmotive wie in einer Echokammer aufeinander reagieren lässt. Eine Art visueller Rhythmus durchzieht jede ihrer Ausstellungen, was sie präzise planen.

Gleichwohl gibt es stets mehrere Leitfäden, an denen sich die Reise durch die Ausstellung orientieren kann. In einer ihrer Ausstellungen bildete das im Titel vorkommende Ei als Symbol für Ursprung, Weiblichkeit, Universum, Ganzheit und Vollkommenheit einen solchen visuellen Leitfaden, wobei Thomas & Renée Rapedius sich assoziativ auch auf die berühmte Geschichte vom Ei des Kolumbus beziehen. Sie gehen jedoch behutsamer vor als Kolumbus in der landläufigen Version der Erzählung. Hier schlägt Kolumbus die Spitze des gekochten Eis auf den Tisch, sodass sie leicht eingedrückt wird und das Ei dadurch stehen bleibt. In Südamerika ist jedoch eine Variante der Geschichte verbreitet, bei der Kolumbus das Ei nicht eindrückt, sondern in einen kleinen Salzhaufen stellt. Diese Version entspricht der Kunst von Thomas & Renée Rapedius stärker, denn hier bleibt die vollständige ovale Kontur des Eis physisch erhalten, sie ist nur optisch unterbrochen. Kolumbus hat das Ei im Salz ausgestellt, ihm aber die Möglichkeit weiterer Präsentationen in anderen Kontexten bewahrt. Ähnlich vollzieht sich auch die künstlerische Aneignung bei Thomas & Renée Rapedius. Was in ihr Universum der Formen eingeht, bleibt in seiner Substanz stets erhalten. Sie verzichten bewusst darauf, das verwendete Material einer kritischen, diskursiven Wertung und Einordnung zu unterwerfen. Vielleicht liegt in dieser Behutsamkeit ein möglicher Weg, die westlich geprägten Sichtweisen zu überwinden, welche den anderen Kulturen ihre eigenen vorgefassten Maßstäbe überstülpen und damit auch die Echokammer der Formen zur Einbahnstraße gemacht haben.

  1. Wolfgang Ullrich, Bilder auf Weltreise. Eine Globalisierungskritik, Berlin 2006