Zehn Fragen

Ein Interview mit Yvette Deseyve, Kuratorin, Gerhard-Marcks Haus, Bremen

Seit Eurem Studium arbeitet Ihr ausschließlich zusammen. Künstlerpersönlichkeiten sind oft Einzelkämpfer. Augenscheinlich habt Ihr Euch gegen eine individuelle Kreativität entschieden. Was bedeutet für Euch das Zusammenarbeiten?

Unsere Zusammenarbeit verhindert individuelle Kreativität nicht, es ist eher eine Verdopplung, vielleicht sogar mehr als das. Zusammenarbeiten bedeutet für uns, sich gegenseitig auf die Dinge und Phänomene um uns herum aufmerksam zu machen, sich aufeinander einzulassen, sich intensiv und kontinuierlich mit den Ansichten und Standpunkten des Anderen auseinanderzusetzen und dadurch auf neue Gedanken zu kommen.

Kreativität wird traditionell mit den dionysischen Kräften gleichgesetzt, die zum größten Teil durch die individuelle Körperlichkeit ausgetragen wird. Euer Entwurfsprozess basiert jedoch auf einem Dialog. Welche Konsequenzen hat das für Eure Werke?

Kreativität ist grundsätzlich schwer zu lokalisieren. Ist sie ein Geistesblitz, oder kommt sie aus dem Bauch? Ob sich Kreativität in individueller Körperlichkeit ausdrückt, da sind wir uns nicht sicher. Mal mehr mal weniger stark wurde die Umsetzung künstlerischer Ideen an andere delegiert; und das nicht erst seit der Konzeptkunst.

Bei uns fallen viele Entscheidungen in der Situation, als Reaktion auf den Moment, die Eigenheiten des Materials. Das hat weniger mit Körperlichkeit als vielmehr mit dem Arbeitsprozess zu tun, der sich nicht in Entwurf und Umsetzung aufteilen lässt und sich meistens auch fließend von der einen auf die andere Arbeit fortträgt. In diesem Prozess gibt es immer einen Moment des Zufalls, auch der Widersprüchlichkeit, der alles Geplante beeinflusst. Es fließen immer wieder neue Ideen und Gedanken ein, die dann konkreter werden in einem Dialog zwischen uns. Dieser Dialog findet sich in den Installationen wieder: Dort lassen wir die einzelnen Elemente miteinander kommunizieren und es entstehen verschiedenste Assoziationen und Bedeutungszusammenhänge. Die Zusammenstellung in einer Ausstellung ist immer eine mögliche Kombination, die Arbeiten können aber auch anders arrangiert werden und neue Dialoge in Gang setzten. Darin spiegelt sich für uns auch die in der heutigen Zeit stete Neuorientierung wider, in der nichts endgültig ist.

Ausgangspunkt Eurer Arbeit ist stets die Beobachtung der Natur, bis am Ende ein künstlerisches Werk steht. Wie lässt sich der Transformationsprozess von Natur in Eure Kunst beschreiben?

Die Beobachtungen von Natur und unserer Umwelt sind sicher ein wichtiger Ausgangspunkt für die künstlerische Arbeit. Wir suchen nach einem Grundstock ästhetischer Figuren und archetypischer Formen sowie ihrer Variationen und versuchen, eine Ordnung der Dinge zu erkennen und aufzuzeigen. Dabei geht es uns nicht darum, Dinge endgültig zu klassifizieren, sondern den Blick möglichst weit schweifen zu lassen. Unsere Beobachtungen halten wir in Zeichnungen und Fotografien fest. In einem fortwährenden Prozess der Wandlung, des Weiterspinnens von einer Form zur nächsten, entstehen daraus Skulpturen, die wir mit Zeichnungen und Fotografien zu Installationen arrangieren. Innerhalb des künstlerischen Transformationsprozesses entstehen Fragen und finden sich Antworten, oder wir stoßen auf etwas ganz Neues. Man könnte sagen, es wächst etwas – da sind wir dann wieder bei der Natur!

Ein anderer Ausgangspunkt ist das Material. Wir haben eine Freude daran entwickelt, uns immer wieder auf neue Materialien einzulassen. Wir erkunden sie, indem wir sie spielerisch bearbeiten und verändern: falten, stapeln, schichten, stecken etc. Im verwendeten Material und den daraus entstehenden Skulpturen zeigt sich für uns auch die Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit unserer Umwelt. Meistens bestehen die Skulpturen aus industriell gefertigten Materialien, gleichzeitig abstrahieren sie natürliche Phänomene, womit sie auf die feinen Unterschiede zwischen Sehen, Kennen und Erkennen verweisen. Es könnte alles auch ganz anders sein: Es gibt ja nicht eine Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit entsteht immer im Auge des Betrachters.

Der Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929) versuchte, mittels seines Bilderatlas »Mnemosyne« die versteckten Verbindungen von Bildern zu erforschen und Bildmuster zu extrahieren. Welche Möglichkeiten kann ein solcher analytischer Ansatz für die künstlerische Produktion bereithalten?

Seine Verfahrensweise ist manchmal hilfreich, um die Bilderwelten zu organisieren. Bei uns ist das jedoch meistens weniger ein wissenschaftlicher als vielmehr ein intuitiver Prozess.

Eure Suche nach Urformen und Strukturen geht vom konkreten Gegenstand aus. Wie lässt sich die nicht greifbare Ideenwelt in dieses Konzept integrieren?

Die einzelnen Teile unserer Installationen sind auf formale und/oder inhaltliche Weise miteinander verknüpft. Sie kreisen um dialektische Gegensätze wie Natur und Kultur, Ähnlichkeit und Differenz, Wahrnehmung und Erinnerung. Wie nehmen wir die Welt wahr? Wie sie ist, oder so, wie wir sie konstruieren? Warum erkennen wir etwas? Und warum erinnern wir uns? Uns interessiert der Komplex aus Formen, Symbolen und ihren Bedeutungen, also sowohl Archetypen als auch sichtbare Phänomene.

Lassen sich die von Euch extrahierten Urformen, die auf einer konkreten Objekt-Zeichen-Struktur basieren, in anderen (kulturellen) Kontexten dechiffrieren?

Neben einer gewissen Allgemeingültigkeit von Zeichen und Symbolen gibt es gleichzeitig individuelle und kulturell geprägte Wahrnehmungen. So werden unsere Arbeiten in verschiedenen Kontexten sicherlich unterschiedlich gelesen und mit anderen Vorstellungen bzw. Inhalten ergänzt.

Wie lässt sich die Beziehung Eurer Arbeiten zur unmittelbaren Umgebung, dem Kontext, genauer beschreiben?

Unsere Skulpturen passen sich in gewisser Weise an die räumlichen Gegebenheiten an und sind oft unmittelbar mit ihnen verbunden. Jedes Mal stehen sie ein bisschen anders da: größer oder kleiner, breiter aufgefächert oder in sich verschoben. Es geht uns um eine Beweglichkeit, eine Offenheit für Unbekanntes, für Vergänglichkeit und Erneuerung. Diese Offenheit für Transformationsprozesse sehen wir auch als notwendige Eigenschaft der Gesellschaft. Durch ihre Anpassungsfähigkeit sind unserer Skulpturen auch mobil. Wir sind in den letzten Jahren viel gereist, daher war es wichtig, dass sie einfach zu transportieren sind. Viele unserer Skulpturen, auch die in dieser Ausstellung, lassen sich auf ein handliches Maß zerlegen bzw. zusammenfalten.

Euer Werk ist ästhetisch und formal reduziert. Lässt sich Eure Kunst bzw. heutige Kunst ganz allgemein noch in den Kategorien figurativ und abstrakt denken?

Als Kategorien spielen sie für uns eine untergeordnete Rolle. Ausgangspunkt unserer Arbeiten ist die Welt in und um uns herum, und diese besteht aus sichtbaren Formen und abstrakten Vorstellungen. In der formalen und ästhetischen Reduktion erfolgt eine Konzentration auf das Wesentliche, in der installativen Zusammenstellung im Ausstellungsraum entsteht eine Vielschichtigkeit. Das Objekt »O.036/4« besteht aus dünnen, abgewinkelten, fein ausbalancierten Stangen. Beim Betrachten entstehen verschiedene Assoziationen: Mit welchen im Gedächtnis abgespeicherten Bildern und Erinnerungen vergleichen wir das Gesehene? Die Linien könnten eine sich öffnende Blüte oder einen Vulkankrater nachzeichnen, oder die Beine einer riesigen Spinne darstellen. Auf einer abstrakteren Ebene geht es uns um Bewegung und Balance – das Sich-Öffnen, das Aufstrebende und wieder Herabfallende, das sich Ausbreiten im Raum.

Diese Aspekte werden auch von den anderen Arbeiten aufgegriffen. Die Wandarbeit »O.054« ist im Sommer dieses Jahres während eines Aufenthalts in Japan entstanden. Die einzelnen aus Schwarz-Weiß-Drucken bestehenden Papierbahnen erinnern an Pinselstriche in der Kalligrafie oder herabstürzende Wasser und deuten damit das Verfließen der Zeit, die Vergänglichkeit an. In ihrer Form und ihrer Farbigkeit ähneln die rosafarbenen Papierobjekt »O.048« Blüten oder Vasen, die Wasser aufnehmen könnten, und in ihrem radialen Aufbau ihren Inhalt zu versprühen scheinen.

Der Bildhauer und Designer Max Bill (1908–1994) hielt 1944 ein sehr rigides Plädoyer, indem er sich für eine Kunst einsetzte, die »ohne äußerliche Anlehung an die Naturerscheinung, also nicht durch Abstraktion entstanden« ist. Teilt Ihr die Idee nur in der Vorstellung existenter »Bilder«, die durch künstlerische Produktion realisiert und in konkrete Formen überführt werden?

Wir glauben nicht, dass Bilder nur in der Vorstellung und ohne Relation zur Außenwelt existieren können.

Wie verhalten sich die verschiedenen künstlerischen Medien Fotografie, Zeichnung und Skulptur in Eurem Werk zueinander?

Unsere Zeichnungen wirken oft wie Fotografien, unsere Skulpturen wie Zeichnungen – nur größer und raumgreifend. Wir behandeln die verschiedenen Medien gleichwertig, die einzelnen Arbeiten kommunizieren miteinander; Assoziationen entstehen. Um den Raum für diese Assoziationen möglichst weit offen zu halten, nutzen wir an Stelle von Titeln ein Nummernsystem.

Es ist uns wichtig, über Formen und Strukturen und ihre Zusammenhänge in Natur und Kultur, Gesellschaft und unserer Umwelt nachzudenken. Wir wollen deutlich machen, dass die Dinge trotz aller Unterschiedlichkeit vielleicht doch mehr miteinander zusammenhängen, als es uns oft bewusst ist. Gleichzeitig bleiben die Installationen fragmentarisch, so wie es auch Erinnerungen und die Welt ganz allgemein sind. Und auch wenn alles mit allem zusammenhängt, steht alles auch irgendwie für sich, denn einen allumfassenden Sinn gibt es nicht. Dennoch versuchen wir etwas Sinn und Ordnung in das Chaos zu bringen.