Im Universum der Simulation

Susanne Weiß, Direktorin, Kunstverein Heidelberg

Der Nebel löste sich auf und das Schiff glitt in eine Mondscheinlandschaft, die über der Tür des Zimmers installiert war. Einer täuschenden Wahrheit sich Nacht für Nacht nähernd, verwandelte der Mond die Welt in das Halbklare, Unscharfe und schaffte den Eindruck des Fremdartigen, Geheimnisvollen. Das Geheimnisvollste aber daran war, dass der Mond, angezündet von seinen illusionsbesessenen Besitzern, dem Zimmer die Farben entzog. Was blieb, war ein weißer Raum. Mehr noch, das nächtlich wiederkehrende Weiß nahm nicht nur seine Farben und teilte das Zimmer in schwarz und weiß, sondern es entwickelte durch seine eigenen physikalischen Gesetze abstrakte Formen. Tagsüber, wenn die Sonne schien und der Welt ihre Farben gab, waren die Fenster mit weißen Papiervorhängen verschlossen, auf denen sich den Besuchern durch die davor stehenden Pflanzen ein Schattenschauspiel bot. Auch der Pfau, der einmal täglich vorbei stolzierte, verharrte und seinen Körper verwandelte, war von innen nur als Struktur zu erkennen. Ratlos, nicht wissend, ob das Schauspiel reell war oder bloß ihrer Imagination entsprach, verließen die Betrachter den weißen Raum. Geblendet von der Sonne rieben sie sich ihre Augen und betraten den Garten, der am Fuß eines Gebirges lag.

Weiß ist die primäre Farbe im Werk von Thomas & Renée Rapedius. Weiß als Spiegel für eine konsequente Auseinandersetzung mit unterschiedlichem Material und als Konzentration auf das Wesentliche. Aber auch sein Antagonist, das Schwarz, taucht auf. Beide stehen im Werk der Künstler in verschiedenen Verhältnissen zueinander: Sie polarisieren, überlagern sich und verschmelzen. So ist es das Weiß, welches über die Oberflächen ihrer Objekte streicht und der schwarze Stift oder die Tusche, die fließend von einem Motiv zum nächsten führt.

Vorbilder ihrer abstrahierten und reduzierten Darstellungen sind Systeme innerhalb unserer Natur. Diesen begegnen sie mit einem sezierenden Blick und entwickeln so eine präzise, minimalistische Formensprache. Dem Prinzip der Mimikry folgend, schaffen die Künstler aus Skizzenblöcken einen Kakteenhain, aus Pappbechern eine organische Wucherung, aus einer Papierrolle ein Bergpanorama, aus gewöhnlichem Kopierpapier eine fotorealistische Berglandschaft, aus Faltkartons eine Palmengruppe und aus Trinkhalmen einen Wasserfall.

Fast könnte man meinen, dass ihre Arbeiten divergierende Reproduktionen ihrer Vorbilder sind. Die Natur und ihre Gesetze der Wiederholung als Bereicherung wahrnehmend, zeigen uns die Künstler beinahe nebensächlich wie der Kreislauf von Aneignung und Kopie funktioniert. Mit ihrem assoziativen Verfahren der Vervielfältigung erschaffen sie eine neue, subjektive Realität, die frei von jedweder romantischen Idealisierung der Natur ist – gleichzeitig erinnern sie uns an ihre imaginäre Präsenz und die damit verbundene Sehnsucht.

Darüber hinaus spielen ihre Skulpturen mit dem Verhältnis zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen: Durch die Verwendung alltäglicher Gegenstände wie Pappbecher, Trinkhalme und Pappkartons konstruieren die Künstler ein Bezugssystem, das der Natur gleicht. Es ist der reglementierte Individualismus unserer Industriegesellschaft, den die Künstler aufgreifen und nach dessen Ursprüngen sie in ihrem Werk suchen.

Die Objekte von Thomas & Renée Rapedius sind hybride, agile Gebilde, die sich zwischen Körperlichkeit und Dinglichkeit bewegen. Ihre Befindlichkeit setzt sich aus einer Art historischem Arsenal zusammen, das sich aus kulturellen Erinnerungen und Vorbildern speist. So sind es nicht nur die gefalteten Papierobjekte, die sich grazil auffächern, anpassen und die Wand erobern wie Oskar Schlemmers Triadisches Ballett den Raum, sondern auch die an Kakteen erinnernden Objekte, die mit ihrer Durchlässigkeit zu einem kulissenartigen Arrangement für den Betrachter werden. Wie Schlemmer, der die Figuren seines Balletts sich auf geometrischen Bildern bewegen ließ, lassen die Künstler ihre Objekte auf dem vorgegebenen Parkett tanzen. Die Bewegung, die in ihren Arbeiten zu finden ist, ist ihrer Leichtigkeit geschuldet. Die vielschichtige Orientierung, die den Objekten innewohnt, ermöglicht es ihnen, den Raum zu überwinden.

Ihre Objekte befinden sich im Werden, von einer Form zur nächsten. Eine Deklination der Strukturen, die sie, von der Natur vorgegeben, in ihre eigene Sprache übersetzt haben. Thomas & Renée Rapedius greifen den permanenten Übergangszustand der Natur auf, indem sie sich selber mit ihren Arbeiten an einem Übergang befinden, in dem das Phänomenologische in die Virtualität des Imaginären übergeht. Ihre ästhetisch geschaffene Realität gleicht einer Fiktion, die dazu tendiert, mit der eigenen Imagination zu verschmelzen. Es ist ein Doppelbild, das sich mit dem Raum und dem Betrachter verändert und bewegt.

Betrachtet man ihre Arbeiten, erkennt man, dass diese enge Beziehungen miteinander pflegen. Es ist geradezu ein Assoziationsgewitter und ein Spiel mit Form und Farbe, dass sich vor dem Betrachter im wahrsten Sinne des Wortes „auffächert“. Die Formen folgen universalen Gesetzmäßigkeiten und resultieren aus einer langjährigen Beschäftigung mit der Repräsentation von Landschaft und Natur. Die Spannung zwischen Ordnung und Chaos erzeugt eine dynamische Rückkoppelung. Diese Dynamik ist für das Werkverständnis von großer Bedeutung. Die Beobachtung von ästhetisch ähnlichen Strukturen in der Natur hat die Chaosforschung und die Suche nach einer grundlegenden Formel der Ähnlichkeiten und Selbstähnlichkeiten ausgelöst. Erst durch Vergrößerungen und in der Wiederholung sind bestimmte natürliche Phänomene wieder erkennbar. Nicht nur die plastischen Arbeiten von Thomas & Renée Rapedius spiegeln diesen Grundsatz wider, sondern auch ihre filigranen Zeichnungen gehen diesem Prinzip nach. Durch ihre Beobachtung von Welt entsteht ein formales, ideenreiches Universum der Simulation, dem sie keine Grenzen setzen.